Fürs Leben gelernt

Ein Damhirsch steht neben einem kleinen Holzzaun, eine Person streckt eine Hand nach dem Tier aus

Mein Tag beginnt mit gemischten Gefühlen. Einerseits freue ich mich auf die erste Wildtierparkführung, die ich begleiten darf, seit ich vor knapp einer Woche hier angekommen bin. Andererseits bin ich auch etwas nervös und habe Angst, etwas falsch zu machen, obwohl ich die Führung nicht selbst halten muss. Das macht meine Mitpraktikantin Patricia. Aber auch sie hat noch nie so eine Führung gehalten, obwohl sie schon einen Monat länger hier ist.

Zeit also, mich noch ein bisschen auf unsere Gäste vorzubereiten, bevor diese eintreffen. Die heutige Führung hat eine Grundschulklasse einer Förderschule gebucht. Zwei der Kinder sind blind, die anderen drei seheingeschränkt. Begleitet werden die Kinder von ihrer Lehrerin und zwei Begleitpersonen.

Im Nachhinein muss ich leider sagen, bin ich den meisten klassischen Klischees und Vorurteilen über Menschen mit Behinderung im Allgemeinen und blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen im Besonderen aufgesessen. Darf ich zu einer blinden Person „Auf Wiedersehen“ sagen? Was wird von mir erwartet? Worauf muss ich achten? Was, wenn ich etwas falsch mache? Haben die Kinder überhaupt etwas von einem Besuch im Wildtierpark, wenn sie die Tiere nicht sehen können? Zum Glück gibt es Kollegen und Google.

Ja, man darf das sagen. Die meisten sehbehinderten und blinden Menschen stören sich nicht daran. Sie wollen nicht bevormundet, sondern ganz normal behandelt werden. Was von mir erwartet wird: abgesehen von ein paar Grundregeln im Umgang mit blinden Personen NICHTS BESONDERES. Zu diesen Grundregeln gehört zum Beispiel, dass ich niemanden ungefragt anfasse, geschweige denn irgendwohin ziehe. Und wenn ich etwas falsch mache, dann werde ich schon darauf hingewiesen werden.

So vorbereitet gehen meine Mitpraktikantin und ich zum Treffpunkt am Eingang und warten auf unsere Gäste. Nicht lange darauf erscheinen die vier Jungs und ein Mädchen mit ihrer Lehrerin, einer fröhlichen, jungen Frau, und zwei weiteren Begleitpersonen. Bevor es losgeht, stellen wir uns alle noch einmal mit Namen vor. Meine Mitpraktikantin ist die Ruhe selbst und auch ich merke schnell, dass alle meine Sorgen umsonst gewesen sind. Die Kinder sind mit der gleichen Begeisterung und Neugierde dabei, wie jedes andere Kind auch. Eines von ihnen saugt jedes Wort auf, wie ein Schwamm und lässt sich an jedem Gehege alles ganz genau von seiner Begleiterin beschreiben.

Im Dam- und Muffelwildgehege, kommt es dann zur ersten Mutprobe. Hier können die Tiere mit speziellem Tierfutter gefüttert werden. Zunächst etwas ängstlich sind die Kinder schnell begeistert, wenn die weichen Lippen eines für sie kaum bzw. nicht sichtbaren Tieres vorsichtig das Futter von ihrer Hand nehmen.

Später spielen wir mit den Kindern ein Geräusche-Memory. Jeder bekommt ein altes Filmdöschen mit mysteriösem Inhalt und muss allein durch dessen Klang die Person mit dem gleichen Döscheninhalt finden. Während Uhus ihre Beute allein durch ihr Gehör ausmachen können, fällt es uns Menschen schon bei den Döschen schwer. Und dann habe ich plötzlich die kleine, schmale Hand meines Memorypartners in der Hand. Sein Langstock liegt am Boden, während wir warten, dass auch die anderen Kinder ihre Partner finden. Als die Konzentration nachlässt, wird eine Pause auf dem Spielplatz gemacht. Die Kinder toben sich an den Spielgeräten aus – kaum zu unterscheiden von den anderen.

Am Ende der Führung sind die Kinder müde aber glücklich. Damit ist auch die Frage geklärt, ob sie etwas von einer Führung in einem Wildtierpark haben. Definitiv!!! Doch nicht nur die Kinder, auch ich habe viel gelernt heute, allerdings nicht (nur) über die Tiere. Der heutige Tag hat mir gezeigt, dass alle meine Bedenken vollkommen unnötig waren. Die Kinder waren nicht anders als andere Kinder und es hat großen Spaß mit ihnen gemacht.

Mein Tipp: Trau dich einfach!

Ronja Arnold

Umweltpraktikantin 2025

Ort

Nationalpark Kellerwald-Edersee