Vom Morgengrauen bis zur Dämmerung am Lilienstein

Dämmerung am Lilienstein.

Vogelzwitschern umfängt mich, als ich aufwache. Es ist 4:50 Uhr und dämmert bereits – für mich die beste Zeit des Tages. Schnell hüpfe ich aus meinem Bett und ziehe mir einen Pulli über. Es ist Anfang Mai, noch ist es morgens frisch und das Gras auf der Wiese schmückt sich mit zierlichen Wassertropfen.

Barfuß mache ich mich auf den Weg zum Lilienstein, der direkt vor meiner Haustür liegt. Unter meinen Füßen wird die taunasse Wiese zu weichem Waldboden, auf dem man sich nahezu lautlos bewegen kann, dann zu raschelndem Laub und schließlich zu Sandstein und Metallstufen, die auf den Lilienstein hinaufführen. Durch das Blätterdach kann ich bereits jetzt den orangeroten Himmel erahnen. Oben angekommen, suche ich mir ein gemütliches Fleckchen und richte meinen Blick gen Osten, wo in wenigen Momenten die Sonne am Horizont auftauchen wird. Ich habe dieses Naturschauspiel bereits unzählige Male bestaunen dürfen und doch ist ein jeder Sonnenaufgang einzigartig, insbesondere, wenn die eindrucksvolle Landschaft der Sächsischen Schweiz vor einem liegt. Auch andere Frühaufsteher gesellen sich hinzu. Ich lasse mein Gesicht von den ersten Sonnenstrahlen kitzeln, mir den Wind ins Gesicht und meine Nervosität aus dem Kopf wehen – heute werde ich zum ersten Mal eine Kindergruppe allein leiten. Nach einigen Minuten in der Morgensonne mache ich mich auf den Rückweg. Als ich zur Sellnitz zurückkomme, der Jugendbildungsstätte des Nationalparks, wo ich untergebracht bin, glitzern die Wassertröpfchen auf der Wiese bereits im Morgenlicht. Langsam kommt jetzt auch Leben in die Sellnitz-WG, in der wir zu viert leben. Wir frühstücken gemeinsam, besprechen kurz den Tagesablauf und packen dann unsere Programm-Rucksäcke.

Wie ein kühler, grüner Dschungel umfängt uns der Buchenwald rund um den Lilienstein, als wir uns um 8:00 Uhr auf den Weg zum Fähranleger machen, um eine 3. Klasse aus Dresden abzuholen. Je näher die Fähre unserer Elbseite kommt, desto lauter hört man das Quieken, Lachen und die Stimmen der Kinder, die wir heute mit den Kreisläufen der Natur vertraut machen dürfen. Nach einer kurzen Begrüßung begeben wir uns gemeinsam auf den Weg zur Sellnitz. Unterwegs machen wir Halt am Nationalparkschild und besprechen, was es bedeutet, sich im Nationalpark aufzuhalten. Ganz viel wissen die Kinder schon, obwohl die meisten noch nie hier waren. Nach einer kurzen Frühstückspause teilen wir die Klasse in kleine Gruppen und ich begebe mich mit meiner neunköpfigen, wissensdurstigen Kindergruppe auf eine Spurensuche um den Lilienstein. Sie entdecken einen Muschelabdruck im Sandstein und lauschen erstaunt, wie der Felsen, vor dem wir stehen, einst am Meeresgrund entstanden ist. Wir verfolgen an diesem Tag die Reise eines Teilchens vom Boden durch die Pflanzen und Tiere zurück in den Boden. Auf unserem Weg begegnen uns „Waldelefanten“ (junge Rotbuchen, deren Keimblätter wie Elefantenohren aussehen) und die Kinder lernen anhand der Rinde verschiedene Bäume zu unterscheiden.

Das Zwitschern des Buchfinks begleitet uns entlang unserer Strecke und läutet für eine Drittklässlerin den Beginn einer Ornithologinnen-Laufbahn ein. Alle paar Schritte lauscht sie und beobachtet. So ist es meistens – die Gruppe besteht einerseits aus Kindern, die riesiges Interesse an der Natur haben und solchen, die einfach nur spielen wollen – oder auch sofort nach Programmbeginn fragen, wann sie wieder zuhause sind. Unsere Aufgabe ist es dann, alle irgendwie mitzunehmen und im besten Fall neugierig zu machen. An diesem Tag klappt das dank eines Rehs, dessen Spur wir am Feldrand entdecken. Die Kinder verfolgen sie und tüfteln, woher es kam, wohin es wollte und warum. Schließlich dürfen sie einen Gipsabdruck anfertigen, den sie später stolz ihrer Klasse präsentieren und dann mit nach Hause nehmen können. Am Ende unserer Tour treffen alle Teilgruppen wieder aufeinander und stellen vor, was sie heute entdeckt und gelernt haben. Danach gibt es Applaus für die Klasse, für uns und sogar ein paar Umarmungen von den Kindern. Wir begleiten die Gruppe zurück zur Fähre und genießen auf dem Rückweg die Ruhe des Waldes, die einem erst bewusst wird, wenn die Kinderstimmen wieder in der S-Bahn verschwunden sind.

Jetzt ist erst mal Durchatmen angesagt. Nach einer kurzen Pause in der Sonne schnappe ich mir einen Natur-Kinderführer und schreibe mir ein paar Fakten auf, die ich den Kindern beim nächsten Mal mitgeben kann. Mit Nudeln, Schokolade und heißem Tee im Gepäck begeben wir uns später am Abend gemeinsam ein zweites Mal für heute auf den Lilienstein, diesmal, um den Sonnenuntergang auf der anderen Seite zu würdigen. Aneinandergekuschelt und unter Decken sitzen wir auf einem Felsvorsprung und blicken in den Sonnenuntergang, reflektieren dabei die Eindrücke des heutigen Tages. Die Sonne verschwindet hinterm Horizont und es wird langsam dunkel. Als über uns die ersten Sterne auftauchen, wird es Zeit zu gehen. Den Rückweg über Treppen, Steine und den Waldboden nehmen wir an diesem Abend problemlos ohne Taschenlampen. Es ist fast Vollmond und durch die Lücken im Blätterdach erscheinen sogar unsere eigenen Schatten erstaunlich klar. Wieder an der Sellnitz angekommen, wünscht uns das Käuzchen mit seinem melancholischen Ruf noch eine gute Nacht. Nach diesem Tag mit vielen neuen Eindrücken und noch viel mehr Bewegung kuschle ich mich nun sehr müde, aber auch sehr erfüllt in mein Bett und schlafe in Sekunden ein.

Isabelle Wolf

Umweltpraktikantin 2023

Ort

Sächsische Schweiz