Naturgefühle auf der Hallig
Von der lauten, schrillen und bunten Großstadt Berlin hinaus ins gewaltige, weite Wattenmeer – das klingt nach zwei Extremen, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Während in Berlin bei Nacht noch alles leuchtet und blinkt, ist es auf der kleinen Hamburger Hallig im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer stockfinster. Neben den Vögeln, dem leisen Pusten des Windes und hier und da einem aufgeregten Schaf hört man abends sonst nichts – Stille.
Ich selbst liebe die Natur über alles, bin aber, auch wenn ich mir das ungern eingestehe, ein typisches Stadtkind. Von A nach B fahre ich am besten mit der U-Bahn und wenn mir mal um 2 Uhr morgens die Milch ausgeht, gehe ich halt in den Späti nebenan. Ein Praktikum auf der Hamburger Hallig, weg aus meiner gewohnten Umgebung, voller neuer Eindrücke, extremen Wetterveränderungen, den gewaltigen Kräften der Nordsee und dem nächsten Supermarkt 12 Kilometer entfernt, ohne Bahn, Bus oder Auto – das klang nach einem Abenteuer, das mir gefallen könnte.
Und was für ein Abenteuer auf mich wartete! Zum Beispiel erlebte ich gleich zu Beginn meines dreimonatigen Praktikums ein Landunter. Der Damm zur Hallig war überflutet, das Wasser züngelte schon an der Warft und der Wind wehte mit einer gewaltigen Kraft. Obwohl dieses beeindruckende Schauspiel wirklich respekteinflößend war, war es auch einer der schönsten Momente, die ich bis jetzt erlebt habe. Ich wartete nämlich nicht allein auf der kleinen Warft darauf, dass sich die Flut zurückziehen und den Weg aufs Festland wieder freigeben würde: Ich wartete gemeinsam mit hunderten von Vögeln – Nonnengänse, Austernfischer, Rotkehlchen, Amseln und Ringelgänse versammelten sich auf dem Hügel. Bei solchen Schauspielen fühle ich mich der Natur besonders verbunden.
Apropos Naturschauspiele: solche kann man auf der Hamburger Hallig täglich beobachten. Ebbe und Flut wechseln sich regelmäßig ab und zeigen den Meeresboden oder stürmische Wellen. Doch nicht immer ist es während der Flut stürmisch. An einem besonders windstillen Abend im April stand ich am Ufer und beobachtete Vögel. Die Sonne ging langsam unter und tauchte den Himmel in ein zartes orange, welches langsam ins dunkelblaue überlief. Dicke weiße Wolken hingen tief am Himmel und während ich mich umsah, fiel plötzlich etwas Kaltes auf meine Hand. Es fing an zu schneien! Vor einem wunderschönen Sonnenuntergang fielen leise die Schneeflocken auf die spiegelnde Wasseroberfläche. So schnell der Schnee kam, ging er auch wieder, denn nach wenigen Minuten war dieser wunderschöne Moment vorbei.
So idyllisch das alles klingt, muss ich doch zugeben, dass ich drei Monate vollkommene Stille nicht ausgehalten hätte. Von Berlin ist man so etwas nicht gewohnt! Zum Glück ist es tagsüber gut besucht hier oben und ich treffe in der Wattwerkstatt, die ich betreue, jeden Tag neue, nette Menschen aus aller Welt.
Wenn ich von der Hallig runterfahre, komme ich an weiten Feldern und üppigen Wiesen vorbei, bis ich die nächste Stadt erreiche. Was in der Großstadt sogar schon gefährlich werden kann, macht hier auf dem Fahrrad einfach nur richtig Spaß. Es gab schon viele Fahrten, auf denen ich laut singend mit beiden Armen in die Höhe gestreckt (nicht nachmachen) an blühenden Rapsfeldern vorbeifuhr und mich einfach so richtig gut gefühlt habe. Man begegnet hier allerhöchstens einem Traktor oder ein paar Radfahrern, welche einen fröhlich grüßen: Moin! Und wenn ich wieder oben auf der Hallig ankomme und von meinen Schafen und Vögeln begrüßt werde, merke ich, was für ein Glück ich habe.
Wenn ich in ein paar Wochen wieder in Berlin ankomme, mit Beinen aus Stahl und roten Wangen, werde ich mich auf jeden Fall freuen, wieder zuhause zu sein. Aber ich weiß jetzt schon, dass ich, wenn ich abends in meinem Schlafzimmer liege, das Trillern der Austernfischer und Rauschen des Nordseewindes vermissen werde. Diese Erinnerungen kann mir keiner nehmen.
Shoshana Wrobel
Umweltpraktikantin 2022
Ort
Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer