Faszination Hamburger Hallig
Hätte man mir vor meiner Zeit auf der Hamburger Hallig gesagt, dass ich mir einmal nichts Schöneres vorstellen könnte, als mein Leben am Wattenmeer zu verbringen – ich hätte es nicht geglaubt. Ich habe die deutsche Nordseeküste immer mit ewig gleichen touristischen Örtchen, dem obligatorischen Sylt-Beutel und glatt gestriegelten Deichpromenaden verbunden. Ein Nationalpark passte überhaupt nicht in dieses Bild.
Wie also kam es dazu, dass eine glückliche Fügung des Schicksals mich zur Bewerbung auf das Commerzbank-Umweltpraktikum motivierte? Nun, da ich das Praktikum (fast) beendet habe, kann ich es ja offen zugeben: Ein bisschen Alternativlosigkeit war definitiv im Spiel. Nach den Corona-Semestern hatte ich das dringende Bedürfnis nach praktischer Arbeit. Eine Praktikumsstelle zu erlangen war allerdings, ebenfalls Corona-bedingt, gar nicht so leicht. Als ich auf die Ausschreibung für den Praktikumsplatz gestoßen bin, dachte ich mir: „Joa… Hauptsache weg vom Studium. Klingt ja eigentlich ganz nett.“ Tja und jetzt, beinahe am Ende meiner zwei Praktikumsmonate angelangt, bin ich wieder alternativlos – ich kann nicht länger bleiben.
Wenn man mir also gesagt hätte, dass die Nordsee und ihre Salzwiesenlandschaft, das Wattenmeer mitsamt seiner belebten und unbelebten Natur, mich einmal so in den Bann ziehen würde, hätte ich es vermutlich angezweifelt. Doch heute habe ich einen ganzen Katalog an interessantem Wissen und wundervollen Erinnerungen in meinem Kopf, den ich immer wieder fasziniert durchblättere.
Da ist zum Beispiel der Tag, an dem der Himmel und das Wasser so gleichartig blau waren und die Septembersonne noch so viel Kraft hatte, dass ich mir vorkam wie im Karibik-Urlaub – nur dass ab und an noch ein Schäfchen durchs Bild gelaufen ist.
Ein anderes Extrem war der Moment, als ich während eines Landunters zu Hochwasser nach draußen ging und es plötzlich hinter mir schepperte. Es kam mir vor wie eine Slow-Motion-Szene in einem Actionfilm, als ich mich gerade noch verwirrt umdrehen und realisieren konnte, dass der Wind plötzlich mit Hagelbällchen beladen war und diese auf das Blechdach hinter mir prasseln ließ. Mit der nächsten Böe wurde ich auch schon von ihnen eingeschlossen. Eben war es noch herbstlich gewesen, im nächsten Moment herrschte für fünf Minuten Winter.
Generell ist die Hallig ein Ort der Wetterextreme. Beziehungsweise liegt die Datscha, das kleine Wohnhaus der Praktikant:innen, in solch exponierter Lage, dass einem das Wetter hier häufig sicherlich einfach extremer vorkommt als anderswo. An stürmischen Tagen kann sich kräftiger Sonnenschein mit Starkregen abwechseln. Heute Sommer, morgen Herbst und andersherum.
Die einzige Konstante ist die nordische Dauerbrise, die mal mehr, mal weniger kräftig weht. So manches Mal habe ich an besonders stürmischen Tagen in der Datscha aber auch ganz erstaunt aufgehorcht - denn dann ist die plötzliche Stille in mein Bewusstsein vorgedrungen. Kein Tosen war dann mehr zu vernehmen, sondern nur noch die leisen Umgebungsgeräusche, die zuvor vom starken Rauschen des Windes übertönt worden waren. Ich fand es jedes Mal wieder verrückt, wie bei Stürmen von über 80 km/h die Luft für ein paar Minuten scheinbar einfach stehenbleiben konnte.
Der Wind ist hier also normalerweise ein Dauerbegleiter, an den man sich aber schnell gewöhnt. Wenn ich müde war, habe ich mich selbst draußen immer erst richtig belebt gefühlt, nachdem ich eine Weile in Windrichtung gelaufen bin und die salzige Luft eingesogen habe. Andererseits hat mich bisher noch nichts anderes so unglaublich müde werden lassen wie ein paar Stunden Bewegung an stürmischer Nordseeluft.
Der Wind hilft auch bei der Wettervorhersage für die Hallig. Da man hier freie Sicht in alle Richtungen bis zum Deich, den umliegenden Halligen und (Halb-)Inseln hat, kann man sich einigermaßen ausrechnen, wie schnell die dort abregnenden Wolken oder Aufklarung bei einem ankommen. Meistens bin ich trotzdem nass geworden.
Außerdem ermöglicht dieser Ausblick von der Hallig – neben wunderschönen Sonnenauf- und -untergängen – auch tolle Sternenhimmel und Mondszenerien. Den vollen Mond kann man sehr detailreich durch das Spektiv betrachten. Generell erscheint er mir hier immer irgendwie größer und näher als anderswo.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich damit verbracht habe, einfach nur die Natur zu beobachten. Wer zum ersten Mal über die Hallig läuft, der könnte meinen, es gebe hier nur eintönige Queckenvegetation und schlammige Wattfläche. Doch mit der Zeit schult sich der Blick. Er schweift nicht länger auf Häuser-Höhe, sondern richtet sich zum Boden oder über den Horizont. Dann fallen einem die vielen Vögel auf, die entweder einzeln oder in Schwärmen aus den Salzwiesen auffliegen und zu Hochwasser auf den Lahnungen hocken. Auch die Steinwälle im Watt sind selten so leer, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Hier finden sich häufig kleinere Limikolen wie der Steinwälzer. Ebenfalls sind die Wattflächen prall gefüllt mit Leben. Beispielsweise lohnt sich bei Ebbe die Erkundung der kleinen Priele, in die sich neben jungen Nordseegarnelen auch Sandgrundeln und Einsiedlerkrebse zurückziehen.
Nach und nach konnte ich mich immer mehr an den Kleinigkeiten in den großen Dingen, genauso wie an den großen Dingen in den scheinbaren Kleinigkeiten erfreuen. Etwa die Art, wie sich hohe Windgeschwindigkeiten in der bewegten Oberfläche von Wasserstellen oder Weidegras zeigen. Wie der Wellengang ganz anders klingt, wenn man auch nur einen Meter von der Wasserkante entfernt steht, als wenn man sich direkt auf die Steinbegrenzung stellt. Wie man lange denkt, es tue sich gar nichts und dann das Wasser auf einmal unglaublich schnell auf- und wieder abzulaufen scheint. Wie der größere den kleineren Vogel durch seitliches Trippeln auf der Lahnung verdrängt, wenn sein Hochwasserrastplatz langsam von der Flut eingenommen wird. Wie sie stoisch Seite an Seite ihre Schnäbel in den Wind halten, das eine Bein entspannt angehoben. Wie der kleine, aber verhältnismäßig große Grabefuß die Herzmuschel in den Wattboden gräbt. Wie man im richtigen Moment tatsächlich einen leichten Einstrom am Fressgang des Wattwurms beobachten kann. Wie schnell die Wolken vorüberziehen und sich die Lichtverhältnisse im Watt und auf den Salzwiesen verändern.
So richtig genossen habe ich die Morgen und Abende, an denen ich wirklich (fast) einsam auf der Hallig war. Dann hat die Landschaft, trotz des regen Treibens an Land und in der Luft, eine unglaubliche Ruhe ausgestrahlt, die ich durch meine neugierige Anwesenheit nicht zu stören versuchte.
Von Familie und Besucher:innen bekomme ich häufig die erstaunten Fragen, ob es mir hier nicht langweilig wird, oder gar ob ich nicht Angst habe, da ich so allein auf der Hallig lebe. Den Leuten kann ich dann nur ganz begeistert erzählen, wie sehr mich die Hallig immer wieder aufs Neue fasziniert. Dass es hier jeden Tag, oder eigentlich schon alle paar Minuten, irgendwie anders aussieht, wenn man nur genau hinsieht. Dass ich im Zweifelsfall einfach mit meinem Fernglas losstratze und zuletzt immer noch eine ganze Weile am Wasser oder an der Wattfläche stehe und den Wellengang sowie den strammen Wind oder das leise Klicken der Schlickkrebse und das Treiben der Watvögel genieße.
Und oft denke ich mir dann, und das meine ich genauso kitschig, wie ich es jetzt schreibe: Ich bin richtig froh, an diesem einzigartigen Ort eine Weile gelebt und ein bisschen von seiner Ökologie ganz für mich allein erlebt und erkundet haben zu dürfen.
Berit Rasche
Umweltpraktikantin 2021
Ort
Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer