Flyer verteilen - einmal rund um den Nationalpark

Flyer verteilen (Foto Hannes Schädel)

6:00 Der Wecker muss mich heute aus einem besonders tiefen Schlaf holen. Noch ist niemand wach und auch nicht, als der Geruch von Kaffee durch die Wohnung zieht. Ich bin nicht verwundert. Ich weiß genau, wann wer aufsteht. Seit das Praktikum begonnen hat, sitze ich mit anderen Menschen am Küchentisch.

 

Nein, nicht meine Mitpraktikant*innen. Es ist 2021, Corona, und ich sitze in Dresden. Seit ich um 6 aufstehe, sehe ich einen Teil des WG-Lebens, den ich sonst verschlafe. Es geht mit dem Zug in den Nationalpark und ich beobachte, wie der Zug schnell leerer wird. Der entgegenkommende Zug ist voll und ich weiß, dass er bis zum Dresdner Hbf immer voller wird, denn das habe ich ge-duckduckgo-t. Der Zug ist jetzt leer und man könnte denken, ich sei in die falsche Richtung gefahren. Dabei mache ich es gerade genau richtig: Heute bekomme ich Bewegung, frische Luft und jede Menge Input für Hirn und Magen (meine Lieblingsorgane zu Zeit).

Mir egal, dass ich von einem Bildungsprogramm schreiben sollte. Nicht mehr lange und die Schulen werden kommen. Dann geht das los, worauf ich mich am meisten freue. Aber ich bin mir in den letzten Wochen auch bewusst geworden, wie gut mir die Wertschätzung für jene Dinge tut, die oft hinter den großen Dingen verlorengehen. Und eine der Dinge meines Praktikums, die ich nicht vergessen möchte, wenn die strahlenden Kinder kommen und mit mir als Eichelhäher durch den Wald fliegen, ist die Anstrengung der Beteiligten in dieser Zeit. Das Zähe und das Aushalten steckt uns in allen Gliedern: Nichts möchte sich gerade mehr so anfühlen, wie es mal war. Was macht es mit einer Bekanntschaft, wenn man sich nie die Hand gibt, alle in Einzelbüros sitzen? Im Kollegium der Nationalparkverwaltung würde es mich sehr interessieren, wie die Menschen sich in Gruppen verhalten und, über was beim Mittag geredet wird.

Ich fahre heute mit S. raus und wir bringen Halterungen für Flyer an den Eingangsschildern des Nationalparks an. Endlich mal jemand, der noch mehr über Geologie redet als ich. Im Tal der Kirnitzsch/Křinice fließt, neben Wasser, vieles von dem Zusammen, was ich bereits über die Region gelernt habe. Da ist der Kurpark Bad Schandaus, ein „Schmuckstück deutscher [sic] Ingenieurskunst“, das 2002 trotzdem kein Übertreten des Flusses verhindern konnte. Entlang der Kirnitzschtalbahn für die Touris schlängeln wir uns hinauf, sehen Ruinen, die nach dem Hochwasser nicht mehr aufgebaut wurden und einige alte Mühlhäuser, die Gegenspieler der Holzflößerei waren und deren Erdgeschoss vor Kälte und Feuchtigkeit kaum bewohnbar ist. Jenseits der Straße und Aue ragen die Felsen steil empor, behalten die Sonne für sich und ihre Bewohner und sorgen für Schatten und Feuchtigkeit an der Talsohle: Kellerklima. Die linke Talseite besteht aus Granodiorit und die Rechte aus Sandstein: Wir befinden uns an der Lausitzer Überschiebung. An manchen der kleinen Wasserfälle sind sogar Schrammspuren durch Granodiorit an den Sandsteinen zu erkennen. 

Immer wieder steigen wir aus, bohren Flyerkästen an die Eingangsschilder und befüllen sie mit Informationen zu gesperrten Wegen und Empfehlungen für alternative Wanderwege. Vielerorts liegen Fichten, vom Borkenkäfer geschält, am Boden.
Die Verwaltung des NLP wird von allen Seiten angefeindet und unter Druck gesetzt. Ich frage mich, wo die Generation ist, die bereits an Bildungsprogrammen hier teilgenommen haben könnte.

Mir fallen Parallelen zwischen dem Umgang mit der Corona-Pandemie und dem Fichtensterben auf:

  • weder ein Fichtenwald ist (hier) etwas, dem nachgetrauert werden muss, noch ist es der modus vivendi unserer Gesellschaft vor Corona,
  • wenige Menschen sehen sich als übersehene Opfer dieser Katastrophen („mein schöner Kindheitswald“),
  • wissenschaftliche Interessen stehen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vorsorgepflicht entgegen,
  • Verantwortung tragende Menschen werden massiv unter Druck gesetzt und
  • die Wirkmächtigkeit natürlicher Prozesse wird spürbar und kann Angst machen. 

Auf dem Weg zurück in die Stadt bin ich wie immer geschafft, aber sehr zufrieden. Ich habe zum ersten Mal einen Eisvogel gesehen und hatte Zeit mir die Vielfalt von Pilzen, Flechten und Insekten im Totholz anzusehen. Trotzdem bin ich in Gedanken bei den Menschen, die sich im Alltag und in Krisen weiter Mühe geben, die Welt ein bisschen besser zu machen, die nicht den Verstand verlieren und die, anstatt Hass und Hetzte zu verbreiten, immer aufs Neue planen, umdenken, warten und solidarisch sind, die sich Impfen und ihre Maske über der Nase tragen. Das alles fällt manchmal nicht leicht, aber ich bin dankbar, dass es genug Menschen gab und gibt, die mir somit dieses tolle Praktikum ermöglicht haben.

Hannes Schädel

Umweltpraktikant 2021

Ort

Nationalpark Sächsische Schweiz